Wenn eine Krankenschwester durch den Flur im Krankenhaus rennt, dann ist das nie ein gutes Zeichen. Wenn kurz darauf ein Arzt spontan die Abteilung mit den Worten „ich muss schnell zur Notaufnahme“ verlässt, dann kann man sich schon vorstellen, was passiert ist.
Es war Donnerstag der 30. Juni, kurz nach neun Uhr, als man mich aus der Wachstation anrief: „Sind Sie die Begleitperson von Herrn. C? Sie können jetzt kommen, er ist aus dem Operationsaal.“ Ich hatte mich mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant in die Lobby des Krankenhauses Schaare Zedek gesetzt und auf diesen Anruf gewartet. Es ist das Krankenhaus, in dem der frühere israelische Premier Ariel Scharon jahrelang im Koma gelegen hatte. Mit eintausend Betten in dreißig Stationen ist es nach dem Hadassah Krankenhaus das zweitgrößte in Jerusalem, hat jedoch jährlich die meisten Patienten. Auf dem Weg zur Wachstation rannte eine Schwester an mir und den vielen anderen Anwesenden vorbei. Ein unruhiges Gefühl durchzuckte meinen Körper. Kurze Zeit später war ich dann in der Wachstation und setzte mich neben Nuun, dessen Operation schnell und gut verlaufen war. Der Arzt am Nebenbett schaute auf seinen Pieper und entschuldigte sich, bevor er in die Notaufnahme nebenan hastete. „Pigua“ klärte mich Nuun verschlafen auf. Es hatte eine Stechattacke gegeben.
Der Raum war noch relativ leer. Die tägliche Arbeit im Operationssaal hatte erst vor knapp zwei Stunden begonnen. Nur wenige Patienten hatten es schon hinter sich. Nach und nach wurden Betten mit mehr oder weniger betäubten Patienten herein geschoben. Die Meisten müssen, wie Nuun, Tagespatienten gewesen sein, denn bald danach folgten auch ihre Begleiter und setzten sich dazu. Vielleicht aber auch nicht. Angehörige können in bestimmten Fällen auch bei Stationspatienten dabei sein, denke ich. Gerade, wenn es Kinder sind. In der Ecke jammerte schon eins. Ich sah nur die Eltern, die um das Bett herum standen und ihm beruhigend zuredeten. Sie waren nicht mehr ganz jung und allem Anschein nach religiös, denn die Mutter trug einen Rock bis über das Knie und Kopfbedeckung, der Vater eine Kippah.
Ein weiteres Kind wurde herein gebracht. Es war ein dunkelhäutiger Junge mit einem Verband um den Kopf. Er war noch nicht wach, bewegte sich aber unwohl hin und her. Eine Schwester blieb so lange bei ihm bis die sehr junge Mutter mit schnellen Schritten angelaufen kam und sich von ihr Anweisungen einholte. Der Hautfarbe und dem Afro nach muss sie Äthiopierin gewesen sein. Sicher war sie hier aufgewachsen, denn sie sprach mit Selbstbewusstsein und war nicht gehemmt Fragen zu stellen, wie das oft bei den älteren ist. Die Mentalität der Äthiopier ist sehr ruhig und zurückhaltend. Deshalb tun sie sich mit der relativ robusten Umgangsweise der Israelis sehr schwer. Ich denke sie war gar nicht die Mutter, sondern seine Schwester. Der Altersunterschied wäre doch sehr klein.
„Der nächste Patient hat eine Latex-Empfindlichkeit!” Hallte die etwas schrille Stimme der Oberschwester durch den Raum. Ihre Kolleginnen horchten auf: „Bitte ganz deutlich notieren. Latex, kein Latex!“ Ich wusste nicht, dass es so was gibt. Herein kam eine Schwester mit einem Baby auf dem Arm. Es war in Stoffwindeln gewickelt und sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Die Pflegerin streichelte es liebevoll und summte. Mit ihr kam noch eine Schwester, die den Tropf hielt. Eine Kollegin empfing sie und scherzte: „Na du mutzt das gleich wieder aus um mal wieder ein Baby zu halten“, „ja natürlich“ erwiderte sie, „schau mal was für ein Liebes.“ Die anderen kamen, um das fast neugeborene Menschlein mit mütterlicher Fürsorge zu bewundern, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandten.
Das Kleine wurde nach Hinten gebracht, wo sich die anderen Kinder befanden. Kurz darauf kam ein Paar herein und schaute sich etwas nervös und suchend um. Er war dünn, hatte einen schwarzen Bart und orientalische Gesichtszüge. Seine Partnerin, trug eine Kopfbedeckung, wie es Muslime tun. Die Oberschwester begleitete die Beiden zu dem gerade eingewiesenen Kleinen, während sie beruhigend eine Hand auf die Schulter der Frau legte, als diese sie fragend und verunsichert anschaute.
Danach wurden nur noch erwachsene Patienten gebracht, die still vor sich hin dösten. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass die Stechattacke in der Nähe von Hebron verübt worden war. Eine einzelne Person war betroffen gewesen. Es beruhigte mich ein wenig, dass es sich nicht um etwas Größeres gehandelt hatte und nicht in Jerusalem oder Tel Aviv passiert war. Das ist vielleicht egoistisch und grausam von mir, aber man denkt nun einmal als erstes an seine eigenen Lieben. Bald wurde Nuun samt Bett von einem freundlichen älteren Herrn abgeholt, der mit arabischem Akzent fließend Hebräisch sprach. Ich begleitete ihn.
Zurück in der Tagesstation hatte sich seit dem frühen Morgen nicht viel verändert, außer, dass sie voller geworden war. Der Herr mit der rauen Stimme, der mit einer männlichen Begleitperson gekommen war, wartete noch immer und beobachtete neugierig die Leute. Rechts lag ein junger Mann und starrte an die Decke. Er war gleich nach uns morgens mit seinen beiden Eltern eingetroffen. Eigentlich war er gar nicht mehr so jung, dass er beide seine Eltern als Begleitung gebraucht hätte. Aber wer weiß, es war eine muslimische Familie und vielleicht gehören sie zu denjenigen, bei denen die Frau nicht ohne Begleitung ihres Mannes aus dem Haus darf. Sie ist eine korpulente Frau, die jetzt neben ihrem Sohn auf einem Stuhl sitzt und in Ruhe schläft. Vielleicht spricht sie kein Hebräisch und traut sich nicht allein im Krankenhaus herum zu laufen und deshalb ist ihr Mann auch dabei. Dieser schlendert gelassen hin und her. Sie warten geduldig. Vielleicht ist es aber auch einfach so üblich, dass man mit möglichst vielen Familienmitgliedern ins Krankenhaus geht. Eine Art Verstärkung.
Eine junge Frau mit mürrischem Gesicht steht bei der Schwesternstation und fängt allmählich an ihre Stimme zu heben. Sie war gebeten worden um 7 Uhr einzutreffen, aber niemand konnte ihr genau sagen, zu welcher Zeit die Operation ihrer 3jaehrigen Tochter tatsächlich stattfinden würde. In der Zwischenzeit durfte die Tochter aber weder essen noch trinken. Die Mutter fand es eine Unverschämtheit, dass sie so früh bestellt worden war und jetzt so lange warten musste. Die Schwester schien Erfahrung mit dieser Art von Beschwerde zu haben, denn sie blieb ruhig und erklärte sachlich, dass ihre Tochter die dritte in der Reihe sei. Oft bestelle man Patienten früh, da man nie wissen konnte wie lange die jeweiligen Operationen dauern würden. Patienten in der Tagesstation müssen sich auf einen Tag im Krankenhaus einstellen. Im weiteren Verlauf des Gespräches verwies sie die verärgerte Mutter auf ihren Arzt, denn er sei es, der sie bestellt hatte.
Dann wurde der Patient, der vor der Operation unser Nachbar gewesen war aus der Wachstation gebracht. Als man Nuun zum OP gerollt hatte, war dieser noch mit einer Schwester am Diskutieren gewesen. Sie wollte irgendwelche Unterlagen von ihn, die nicht in seiner Datei zu finden waren und er war sich sicher sie bei der Voruntersuchung schon eingereicht zu haben. Er hatte mir ein wenig leidgetan, denn er verstand schwer, was sie von ihm wollte. Noch schwerer fiel es ihm sich in Hebräisch verständlich zu machen. An seiner Stimme konnte ich hören, dass er sehr gestresst war. Erst als ein russisch sprechender Arzt zur Hilfe kam atmete er erleichtert auf, denn nun konnte der ältere Herr in seiner Muttersprache kommunizieren und fühlte sich verstanden. Es muss sich alles aufgeklärt haben, denn er hatte inzwischen die OP hinter sich.
So verging die Zeit in der Tagesstation während Ärzte nebenan um das Leben des Anschlagopfers kämpften. Vergebens. Erst viel später lernte ich, dass es sich um eine 13-jährige gehandelt hatte, die im Schlaf, in ihrem eigenen Kinderzimmer, zwischen ihren Stofftieren von einem 17-jährigen erstochen worden war (hier der Spiegel Artikel dazu). Der palästinensische Jüngling war über den Zaun des Ortes geklettert, in ein beliebiges Haus eingedrungen und hatte dort das schlummernde Dornröschen vorgefunden. Die Sommerferien hatten für die Oberschüler gerade begonnen. Das muss man sich mal reinziehen, sich für einen Moment diese Situation vor Augen führen und sie auf sich einwirken lassen – sich die eigenen Kinder in diesem Szenario versuchen vorzustellen. Ein zartes Mädchen, gerade im Backfischalter, liegt ruhig schlummernd im eigenen Bett als ein unbekannter Halbstarker plötzlich daneben steht. Im nächsten Augenblick sticht er wild mit einem Messer auf sie ein, als sei sie lästiges Ungeziefer, eine Giftschlange oder eine riesige stinkende Kanalratte.
Diese Tat macht den Jugendlichen zu einem gefeierten Held des „Wiederstandes“ gegen die Besatzung. Seine Familie wird von namhaften Palästinenserführern, einschließlich Herrn Abbas selber geehrt und finanziell unterstützt.
Ach, ich wollte nicht darüber schreiben. Ich wollte Euch nur meine Eindrücke aus dem Krankenhaus erzählen. Die vielen, so sehr unterschiedlichen Menschen und wie das hier keinen Unterschied macht. Die Fürsorge der Schwestern trotz der Massenabfertigung. Ob Jude oder Muslim, ob russischer oder äthiopischer Herkunft, alle genießen die moderne Medizin und leiden unter zu viel Bürokratie.
Aber die Realität dieses Tages wurde wie so oft gehijact und somit auch dieser Post. (Ausfuehrlicher hat dazu die Bloggerin Chaya hier sehr interessant geschrieben).
… die Demenz meiner Mutter und andere familiäre Umstände haben mich flächendeckende Krankenhäuser kennen lernen lassen… und mit dir stimme ich überein, Eile in den Fluren ist Ernstfallgeschehen… Ruth ihr lebt an einem der glaubensverklärtesdem Brennpunkt, mein Verständnis erreicht nicht einmal annähernd mein Mitgefühl für alle Betroffene, die geliebte Menschen unsinnig verlieren…
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danke, liebes Blumenmädchen. Leider können wir uns gegenseiteig Mitgefühl und senden, nach diesem Wochenende. Was diese Tage in Deutschland geschieht finde ich sehr beunruhigend.
Ubrigens, im Nachhinein ist es gar nicht sicher, dass das Mädel in Schaare Zedek war, sondern es wurde wohl nach Haddassah gebracht. Trotzdem schien sich das Schaare Zedek Krankenhaus auf Verletzte vorzubereiten in dem Moment, als die Nachricht von einer Attacke kam.
Liebe Grüße
Ruth
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Lieben Dank Ruth, ich finde alles im Moment beunruhigend vor allem was im Namen einer Religion und im Wahn geschieht…
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Ich sage immer …. wie gut, dass es das alles gibt. Am Besten ist es, wenn man es nicht braucht, egal aus welchem Grund
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Da hast Du sooooo recht!
LG
Ruth
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