Ich bin eher ein häuslicher Typ, halte mich von Menschenansammlungen fern. Shopping gehe ich nur, wenn ich keine Wahl habe. Sogar Musik Veranstaltungen sind mir oft zu stressig, weil mich das ganze Menschen Durcheinander nervt. Trotzdem habe ich mich neulich dazu überreden lassen zu einer Art Mitsing-Konzert zu gehen und das um eine Zeit, zu der mir normalerweise schon die Augen zufallen. Skeptisch und relativ müde verließen wir die Wohnung. „Wir müssen nicht hingehen, wenn du nicht möchtest“ sagte Nuun verständnisvoll aber doch etwas enttäuscht. „Doch, ich möchte“, versuchte ich mich selber zu überzeugen, „vielleicht tut es mir gut. Wir müssen ja auch mal raus und etwas anderes tun, als immer nur Arbeiten.“ Das klang schon wahrer. So standen wir gegen 22h in einer relativ geordneten und ruhigen Schlange – was für israelische Verhältnisse nicht unbedingt die Regel ist – am Eingang der Yellow Submarine. Das Musiklokal war knallvoll mit Menschen im Alter von 30 und älter; auch viel älter, erstaunlich viel älter! Sie saßen um eng beieinander stehende Tische herum und der Saal war mit Stimmengewirr gefüllt. Unsere Freunde erwarteten uns an einem Tisch direkt an der Bühne. Oh oh, na das fängt ja gut an!
Die Konzertreihe heißt „HaTisch hagadol“, oder „der große Tisch“, wobei der Tisch aus dem Jiddisch genommen wurde und eine symbolische Bedeutung hat. Es ist eben ein großes, gemütliches Zusammensitzen. In diesem Fall wird am Tisch jedoch weniger gegessen und getrunken, sondern hauptsächlich gesungen. Auf der Bühne gibt es keine Leinwand auf dem ein Punkt herumhüpft, damit man mitsingen kann. Dort platzieren sich der Musiker Mosche Lahav mit seiner Gitarre und seine Band, die aus einem Drummer und einem Keyboard Spieler bestehen. Mosche spricht mit dem Publikum als sei er auf einer Familienfeier und alle Anwesenden seien Verwandte und Freunde. Die Lieder, die er darbietet sind allbekannte Israelische Pop- und Rock-Klassiker. Es scheint nichts zu geben, was er nicht kennt, keinen Sänger, keine Gruppe, keinen Titel, den er nicht auch singen, bzw. spielen kann. Er lässt sich Titel aus dem Publikum zurufen. Viele kennen ihn und sind bereits Stammgäste, wenn er hier her kommt. Man kann ihn fast jeden Abend auf einer anderen Bühne irgendwo im Land finden.
Nach einigen Stücken zum Anheizen schleicht sich von hinten ein Saxophonist auf die Bühne. Er fängt einfach an mitzuspielen und Mosche ist sichtlich überrascht. Es ist ein alter Freund von ihm, mit dem er früher aufgetreten ist. Heute hat dieser ihm eine Überraschung machen wollen. Spontan spielen sie ein paar Stücke aus dem gemeinsamen Repertoire.
Verschiedene Amateur Sängerinnen gesellen sich zu diesem oder jenem Lied auf der Bühne hinzu. Racheli, seine Partnerin ist allerdings sehr professionell, wie auch die Band.
Jemand bittet ein Ständchen vorzutragen. Es ist sein Hochzeitstag und er hat seine Frau auf am ‚Tisch Hagadol‘ kennen gelernt. Jemand anders hat zu einem bekannten Lied ein paar Zeilen über Mosche gedichtet und trägt es vor.
Es hat alles einen sehr familiären Charakter und verliert trotz Spontanität nicht an Qualität. Wer Singen will singt, auch wenn er die Worte nicht kennt. Lalala tut es auch. Wer klatschen will klatscht, wer tanzen will tanzt. Wie man sehen kann herrscht Bombenstimmung. Das alles fast ohne Alkohol. So geht es bis um 2 Uhr morgens. Selbst zu dieser Zeit hat Mosche es schwer von der Bühne zu kommen, denn sie wollen ihn einfach nicht gehen lassen.
Es hat Spaß gemacht. Ich finde es ist eine typisch Israelische Art sich zu amüsieren. Typisch sind erstens die wirklich ehrliche und stresslose Spontanität und zweitens die familiäre Atmosphäre. Israelis fühlen sich, trotz aller oft extremen Differenzen, wie zu ein und derselben Familie dazugehörig. Irgendwie fühlen wir uns alle verbunden in unserem Schicksaal. Und ohne Spontanität und Improvisationsvermögen geht hier gar nichts. Das heißt nicht, dass man nicht planen will oder kann. Auch das tut man viel und gerne, aber es muss immer genügend Raum für Änderungen und Verbesserungen geben, die dann auch sofort implementiert werden. Und wenn’s schief geht, dann improvisiert man eben spontan noch einmal.
Einer, der vorgetragenen Klassiker – im Original von Arik Einstein, einem der bedeutendsten Musiker und zuweilen auch Schauspieler und Komiker, der vor gut zwei Jahren im Alter von 74 gestorben ist – geht so:
Ich und Du
wir verändern diese Welt
Ich und Du
und dann folgen alle nach
das sagte man früher schon, vor mir
doch das ist egal
Ich und Du
wir verändern diese Welt
Wie schön! 🙂
Irgendwie war das Improvisieren immer ein Teil von meinem Leben und ich kan mich ganz und gar finden in dem was Du erzählst… 🙂
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Oh wie schön 🙂 Du solltest einmal Israel besuchen, ich denke Du würdest die Menschen hier lieben (obwohl sie auch manchmal etwas ‚rough‘ sein können).
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Ja, wer weiss was die Zukunft noch bringt 😉
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Tausend Dank für diesen tollen Beitrag …und der Song ist wirklich wundervoll…..
Es muss sich schon besonders anfühlen, in Israel zu leben. Danke, dass Du einen kleinen Einblick gibst. Es macht zumindest mich sooo neugierig auf dieses Land!
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Ja, leider ist es schwer hier Geld zu verdienen. Aber zum Besuchen lohnt es sich auf jeden Fall, da kann man sich an all den Besonderheiten richtig freuen.
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ich bin durch Dich jetzt wirklich neugierig geworden!!
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WIEDER ein klasse Beitrag.
Er vermittelt eine Stimmung davon, wie ihr lebt.
Und die Beiträge lassen mich immer bis zum Schluss durchlesen, auch wenn sie länger sind.
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Danke, Smamap:) Ich vesuche mich kurz zu halten, denn ich kenne das selber nur zu gut. Nach spätestens 700 Wörtern wird’s mir zu lang – liegt am ADD 😉
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Das tu ich auch immer, was aber auch nicht immer gelingt, denn manche Themen brauchen Worte. Bei mir liegt es an der Konzentrationsfähigkeit, die ich nur über eine bestimmte Zeitdauer aufrecht erhalten kann, geschuldet einem Schlaganfall.
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oy, jetzt verstehe ich Deinen letzten Beitrag auch viel besser. Wow. Toll, dass Du so viele Deiner Gedanken hier teilst. 🙂
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Ich finde, man sollte das tun, denn nur, wenn man Gedanken teilt, also mit anderen, dann können diese sich jenen Gedanken anschließen (oder auch nicht). Und nur so kann eine Bewegung entstehen, die etwas bewegt.
Wenn es sowas wie einen Blog noch nicht geben würde, müsste man es erfinden
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…die israelische art ist so einnehmend… *freu* herzliche Grüße Ruth vom Blumenkind… 😀
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*Freu* 🙂
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